Der Oberschurke des FußballsDer Fifa-Präsident Gianni Infantino steht für die Verwerfungen des gewissenlosen Kommerzfußballs. Dennoch oder gerade deswegen ist er wiedergewählt worden, per Beifall.Über vieles wurde abgestimmt auf dem Fifa-Kongress in der ruandischen Hauptstadt Kigali. Mit ihren digitalen Wahlgeräten entschieden die Delegierten über die Tagesordnung, das Protokoll, die Suspendierungen von verschiedenen Verbänden. Nur über die Hauptsache nicht. Gianni Infantino wurde als Fifa-Präsident durch Beifall wiederbestimmt. Akklamation, wie schon 2019. Dabei hätte man gerne erfahren, wie viele Gegenstimmen er erhalten hätte. Vielleicht wären es ja doch mehr als die drei gewesen, die das angekündigt hatten. "Ich liebe euch alle", sagte Infantino nach seiner Kür, auch "die wenigen, die mich hassen". Die Generalsekretärin Fatma Samoura blickte zu ihm auf und sagte: "Wir lieben Sie, Präsident." Infantino steht für alle Verwerfungen des ruchlosen Kommerzfußballs. Der bald 53-jährige Schweizer italienischer Herkunft ist der Oberschurke dieses an Schurken nicht armen Sports. Dennoch (oder deswegen) hat ihn die Organisation Fifa zum Chef. Er hatte nicht mal einen Gegenkandidaten, so glücklich ist der Weltfußball mit ihm. Wegbegleiter und Szenekennerinnen spielen gerne ein Spiel, sie fragen sich: Was sind die größten Affären Infantinos, was sind die Top Five seiner Skandale? Der neueste Eintrag: Nachdem Noël Le Graët, der 81-jährige Präsident des französischen Fußballverbands, vorigen Monat nach Vorwürfen sexueller Belästigung zurückgetreten war, ernannte ihn Infantino zum Leiter des Fifa-Büros in Paris. Alle Welt weiß: Dass er nicht alle liebt, war nicht Infantinos erste Lüge. Er macht das öfter, das ist nun amtlich. Die eigene Compliance-Abteilung befragte ihn zu einem Flug von Surinam nach Genf, weil durch Medienrecherchen bekannt geworden war, dass die Reise mit dem Privatjet im April 2017 Kosten von 129.300 Dollar verursacht hatte. Und dass Infantinos Grund, ein angebliches Treffen mit dem Uefa-Präsidenten, nicht stimmen konnte. Denn der weilte an diesem Tag in Armenien, Genf liegt jedoch bekanntlich in der Schweiz.
In der vorigen Woche haben zwei Schweizer Bundesanwälte die Ermittlungen, die sie gegen Infantino in dieser Sache wegen des Verdachts auf ungetreue Geschäftsbesorgung eingeleitet hatten, eingestellt. Er habe zwar willentlich die Unwahrheit gesagt, und zwar den eigenen Gremien, aber strafbar war das nicht. Auch nicht der wahre Grund der Reise: Infantino hatte eine Art Putsch geplant, um zwei kritische Mitglieder der Ethikkommission loszuwerden. Es ist also okay, wenn der Präsident des wichtigsten Fußballverbands alle an der Nase herumführt. Die Fifa hat die Nachricht der zwei Bundesanwälte mit Erleichterung aufgenommen und verkündete gespielt großherzig, Infantino werde auf Schadensersatzforderungen verzichten. Offenbar sieht er sich als Opfer. Andere denken in dieser List of Shame zuerst an seine fraglichen Dates mit Michael Lauber, dem damaligen Bundesanwalt der Schweiz, in einem Berner Hotel. Beide konnten oder wollten sich nicht an die Inhalte erinnern, auch der Name eines der Teilnehmer sei ihnen entfallen, sagten sie, eins ihrer drei Treffen vergaßen sie gänzlich. Wegen dieser Affäre hat der höchste Schweizer Jurist sein Amt verloren, weil damals gegen Infantino ermittelt wurde. Treffen mit dem Verdächtigen wirken wie eidgenössische Kumpanei.
Wiederum anderen schütteln noch immer den Kopf über einen geplanten 25-Milliarden-Dollar-Deal der Fifa, bei dem Infantino neue Fußballturniere schaffen, dabei aber auch wichtige Rechte des Weltverbands veräußern wollte. Nicht mal den Kollegen aus dem Fifa-Rat verriet er, woher das viele Geld kommt, wer der Investor war, dem sie mit ihrem Einverständnis den Fußball verkaufen sollten. Luft holen müssen wiederum manche, wenn ihnen Infantinos beispiellos anmaßende Rede in Katar in den Sinn kommt. "Today, I feel African. Today, I feel gay. Today, I feel disabled." Der getragene Ton, die bedeutungsschweren Pausen verrieten: Er will der Martin Luther King des Fußballs werden. Es reichte allenfalls zum Fantomas. Den Europäern, die Katar wegen Verstößen gegen Menschenrechte kritisiert hatten, warf er noch dazu in einer beispiellos unversöhnlichen Attacke Doppelmoral und Araberfeindlichkeit vor. Dabei war er es, der Marokko, das sich zum fünften Mal beworben hatte, bei der WM-Vergabe 2026 übergangen hatte.
Infantino setzte die USA als Austragungsort durch (mit Kanada und Mexiko). Was den einen Vorteil hatte, dass das Ermittlungsinteresse der amerikanischen Justiz an der Fifa erlahmte. Und den anderen, dass man dort besser mit 48 Ländern spielen kann. In drei Jahren, so entschied die Fifa diese Woche, finden 104 Spiele statt – 40 mehr als bislang. Mit dem Plan, die WM alle zwei Jahre auszutragen, scheiterte Infantino. Dafür wird die Club-WM ab 2025 auf 32 Teams aufgestockt. Europa muss dann zwölf Teilnehmer bei diesem unbeliebten Wettbewerb stellen. Dafür ist Europa wieder gut genug. Entgegen dem Wunsch vieler Vereine, Spieler, Trainer und Fans will Infantino noch mehr Fußball. Er macht Kasse. Menschenrechte sind ihm eher zweitrangig, in Ruanda lobte er Katar über alles. Es habe keine Vorfälle während der WM gegeben, dabei waren Arbeitsmigranten zu Tode gekommen. Am besten zurecht kommt er mit Wladimir Putin, Donald Trump und Mohammed bin Salman, dem Journalistenzersäger aus Riad. Mit Infantino an der Spitze ist zu befürchten, dass eine WM 2030 in Saudi-Arabien stattfinden wird. Dabei war er ein Hoffnungsträger. Als er 2016 seine Antrittsrede hielt, glaubten ihm manche, als er Ehrlichkeit, Bescheidenheit, die Rückbesinnung auf Werte und eine neue Fifa versprach. Unter der jahrzehntelangen Herrschaft Sepp Blatters war sie zum Synonym für Korruption geworden.
Doch mit Infantino wurde wenig besser. Expertinnen fachsimpeln, ob Blatter schlimmer war, unter dessen Ägide Weltmeisterschaften korrupt vergeben wurden, oder Infantinos Politik des radikalen Ausverkaufs. Wirtschaftlich ist Infantino sehr erfolgreich. Die Fifa verteilt viel Geld in der Welt. Infantino lässt besser als sein Vorgänger kontrollieren, was damit geschieht. Das Fifa-Forward-Programm, das die Entwicklungsarbeit regelt, erzielt Erfolge. So funktioniert seine Machtpolitik. Viele kleine Länder hängen von den Zuwendungen der Fifa ab. Infantino besorgt ihnen das Geld, daher wählen sie ihn, jedes Land hat eine Stimme. Seine Kritiker sitzen in Europa. Bernd Neuendorf hatte angekündigt, ihn nicht zu wählen, wie Norwegen und Schweden. Der DFB-Präsident wirft Infantino Intransparenz vor. "Wir haben in den vergangenen Wochen zu verschiedenen Fragestellungen von der Fifa keine oder nur unzureichende Informationen erhalten", heißt es in einer Stellungnahme des DFB. Damit ist vermutlich ein Entschädigungsfonds für Arbeitsmigranten in Katar gemeint, den Neuendorf fordert, den die Fifa aber offenbar nicht umsetzt.
Einen Gegenkandidaten nominierte der DFB allerdings nicht. Überhaupt hat Deutschland, früher hoch angesehen, deutlich an Einfluss verloren. Ständig wechseln die Männer an der Spitze. Einen Verband, gegen den zuletzt ähnlich viele Ermittlungen liefen wie gegen den DFB, bei dem öfter die Steuerfahndung vor der Tür stand, muss man erst mal suchen. Und obwohl er regelmäßig früh im Turnier ausscheidet, tritt der DFB wie ein Weltmeister auf. In Katar verlangte er mehr Akkreditierungen als die anderen, bezog als einziger Teilnehmer ein eigenes Camp und unterlief einmal die Standards der Pressekonferenz. Neuendorf wird im April in den Fifa-Rat rücken, es wird ein langer Weg für den Neuling, die beschädigten Beziehungen zur Fifa zu beheben und dem DFB zu alter Größe zu verhelfen. Infantino wird sich in Kigali von der Menge für weitere vier Jahre feiern lassen. Und er wird vermutlich noch lange da sein. Er hat sich von seinen Leuten bestätigen lassen, dass er erst eine Amtszeit hinter sich habe. Demnach gilt seine erste, von 2016 bis 2019, als Interregnum. Ein juristischer Trick, um die Statuten zu umgehen. Abgesegnet hat ihn auch der frühere Schalker Finanzvorstand Peter Peters. Das ist der Mann, den man bei vielen WM-Spielen in Katars Logen sitzen sah und der den DFB bis kürzlich in der Fifa vertrat. Auch ihm ist zu verdanken, dass Infantino dem Fußball vermutlich bis 2031 erhalten bleibt.
Quelle --->
https://www.zeit.de/sport/2023-03/giann ... ettansicht